Gefährliche Rückkehr ins normale Pendlerleben – kommt jetzt die kantonale Maskenpflicht? Am Donnerstag diskutieren die kantonalen Gesundheitsdirektoren über ein Maskenobligatorium im öffentlichen Verkehr. Der Druck nimmt zu – vor allem weil sich die Pendlerzüge wieder füllen. Daniel Gerny 13 Kommentare 23.06.2020, 16.54 Uhr Drucken Teilen Ein Mann mit Hygienemaske in einer S-Bahn beim Bahnhof Locarno. Ein Mann mit Hygienemaske in einer S-Bahn beim Bahnhof Locarno. Pablo Gianinazzi / Ti-Press / Keystone Das Coronavirus bestimmt den Alltag immer weniger – doch eine Frage verschwindet seit Wochen nicht aus den Schlagzeilen: Wann kommt die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr? Am Wochenende preschte der Genfer Gesundheitsdirektor Mauro Poggia vor und erklärte im Westschweizer Radio, er halte eine Pflicht zum Mund- und Nasenschutz in Zügen, Trams und Bussen für dringend nötig: Man müsse besorgt sein, wenn man sehe, wie sich die Menschen zur Hauptverkehrszeit eng gedrängt in die Wagen pferchten, sagte Poggia. Schon am Mittwoch könnte seine Regierung deshalb aktiv werden, kündigte er an. Auf Nachfrage der NZZ relativierte der Genfer Regierungspräsident Antonio Hodgers die Aussagen von Poggia allerdings: Es sei unwahrscheinlich, dass Genf im Alleingang eine Maskenpflicht einführen werde – und schon gar nicht sofort, weil man die epidemiologische Lage derzeit im Griff habe. Die Verlautbarungen von Poggia seien als «seine persönlichen Ansichten» zu werten, so Hodgers. Schweizer sind wieder mehr unterwegs Doch der Zeitpunkt für Poggias Appell war geschickt gewählt: Am Freitag endete die ausserordentliche Lage, mit der der Bundesrat im März praktisch sämtliche Kompetenzen an sich gezogen hatte. Nun gewinnt die Rolle der Kantone bei der Krisenbewältigung wieder an Bedeutung. Sie tragen seither mehr Verantwortung, wie der baselstädtische Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger erklärt. Doch das ist nicht der einzige Grund für die anhaltenden Diskussionen: Seit Tagen gehen die Infektionszahlen nicht mehr zurück, und es gibt sogar Anhaltspunkte für eine leichte Zunahme der Ansteckungen. Dieser Trend könnte sich schon bald verstärken, nachdem sich das Leben wieder weitgehend normalisiert hat. Zahlen der ETH Zürich zeigen jedenfalls, dass die Schweizerinnen und Schweizer inzwischen wieder deutlich längere Distanzen zurücklegen als auf dem Höhepunkt der Krise. Und nachdem der Bundesrat die Home-Office-Empfehlung aufgehoben hat, dürften sich auch die Pendlerzüge in den nächsten Wochen weiter füllen. Poggia ist deshalb nicht der einzige Gesundheitsdirektor, der sich über die Situation im Verkehr Gedanken macht. Der Luzerner Guido Graf würde einen solchen Schritt grundsätzlich ebenfalls begrüssen, wie er auf Anfrage erklärt. Am kommenden Donnerstag diskutiert der elfköpfige Vorstand der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) unter anderem auch über die Maskenfrage. «Ich schliesse ein Obligatorium nicht grundsätzlich aus», erklärt Lukas Engelberger, der die GDK präsidiert. Engelberger hält die Massnahme für zumutbar und sinnvoll – vor allem dann, wenn lokale Epidemienherde entstehen. Dass die Gesundheitsdirektoren am Donnerstag eine generelle Maskenpflicht beschliessen, ist aber unwahrscheinlich. Engelberger ist jedoch überzeugt davon, dass die Maskenpflicht bei einem Anstieg der Fallzahlen kaum mehr auf grundsätzliche Ablehnung stossen würde: «Mir scheint, dass inzwischen auch im öffentlichen Verkehr vermehrt Maskenträger zu sehen sind.» Nur eine Minderheit trägt Masken Zwar gilt noch immer eine dringende Empfehlung, Schutzmasken im öV zu tragen, wenn der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Laut einer Auswertung des «Tages-Anzeigers» verzichtet allerdings eine grosse Mehrheit nach wie vor darauf. Nur sechs Prozent der Reisenden auf den Bahnhöfen Bern, Lausanne und Zürich tragen Masken, wie Messungen im Auftrag der Zeitung ergaben. Der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit dürften dafür mitverantwortlich sein, da sie Masken zu Beginn der Krise lange Zeit als praktisch wirkungslos dargestellt haben. Viele Leute lassen sich ausserdem kaum für den unangenehmen Schutz motivieren, solange die Masken nicht verbreiteter sind und wie im Ausland den Normalfall darstellen: Anders als bei den Distanz- und Hygieneregeln dient diese Massnahme vor allem dem Umfeld – und weniger den Trägerinnen und Trägern selbst. Das Eigeninteresse ist deshalb geringer. Interessanterweise hatte der Bundesrat für Demonstrationen am Freitag ein Maskenobligatorium verfügt. Diskussionen über die Einführung einer Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr kehren deshalb regelmässig wieder. So hat sich vergangene Woche auch Matthias Egger, Leiter der Corona-Task-Force des Bundesrates, für eine solche Massnahme ausgesprochen. Für die Kantone ist die Ausgangslage aber nicht einfach – auch wenn die Akzeptanz der Maske zu steigen scheint. Sie müssen verhindern, dass jeder seine eigene Strategie verfolgt und so erneut ein Flickenteppich entsteht. Zu Beginn der Corona-Krise hatten die Kantone im Zusammenhang mit den Vorschriften über die mittelgrossen Veranstaltungen durch ihr unkoordiniertes Vorgehen bereits einmal für Konfusion gesorgt. «Der öffentliche Verkehr endet nicht an der Kantonsgrenze», erklärt der Luzerner Gesundheitsdirektor Graf vor diesem Hintergrund. «Darum ist ein koordiniertes Vorgehen extrem wichtig, sonst gibt es ein Chaos.» Auch GDK-Präsident Engelberger macht klar, dass eine Absprache zumindest unter benachbarten Kantonen zwingend sei – zumal das Epidemiengesetz eine Koordination ausdrücklich verlangt. Rechtliche Fragen nicht restlos geklärt Auch rechtliche Fragen sind nicht restlos geklärt: Was gilt beispielsweise in Intercity-Zügen, falls eine Maskenpflicht nur in einem bestimmten Ballungszentrum verhängt wird? Gegenüber den CH-Media-Zeitungen erklärte ein Sprecher des Bundesamtes für Verkehr, eine kantonale Maskenpflicht sei nur bei einem starken regionalen Ausbruch des Coronavirus eine vertretbare Massnahme. Laut Felix Uhlmann, Professor für Staatsrecht an der Universität Zürich, liegt die Entscheidbefugnis allerdings bei den Kantonen. Sie seien gemäss Epidemiengesetz in der besonderen Lage für Massnahmen zuständig, um die Verbreitung von Krankheiten zu verhindern – es sei denn, der Bund regle die umstrittene Frage dennoch plötzlich in Eigenregie.